Die wahren Revoluzzer von heute sind über Achtzig. Sie haben die schleichende Regulierung der letzten Jahre auf Schritt und Tritt erkannt. Wir liessen sie unbedarft zu, aus Mangel an Vergleichen. Darf ich vorstellen? Zwei Franzosen: Alain Badiou, seines Zeichens Mathematiker und Platoniker, und Michel Serres, Wissenschaftstheoretiker und Seemann, sowie Mitglied der Académie francaise.
Beide wenden sich an die heutige Jugend. Serres nennt sie liebevoll Däumlinge, ihrer Smartphones wegen. Gerne wäre er achtzehn wie sie, da alles zu erneuern und zu erfinden sei. Diese Zuversicht mutet heute schon beinah fremdartig an. Die Jugend sieht er völlig losgelöst von bürgerlicher Kernfamilie und von nationaler Zugehörigkeit, die durch Krieg und Internet endlich annulliert wurde. Ihm gefällt, wie sie sich in einem globalen Flickenteppich von Nachbarschaften orientiert.
Auch sieht er die Jugend einer dumpfen Körperlichkeit enthoben, die Menschen an die karge Scholle band und an die Sommerernte und sie Schmerzen ausstehen liess, von denen wir dank Periduralanästhesie und Palliativmedizin verschont bleiben.
Die heutige Jugend fürchtet daher nicht den gleichen Tod und verhält sich anders dem Leben gegenüber.
Dank dieser Ungebundenheit und der hohen Lebenserwartung könne man diese Jugend kaum für einen Krieg gewinnen. Sie werden keine Blutfahnen vor sich hertragen.
Maschinen entlasten uns vor körperlicher Anstrengung, menschliche Intelligenz ist aus ihrer Knochenschale herausgetreten. Wissen wird ausgelagert im Buchdruck, in mehrfach abgespeicherte und vernetzte Codierung. Das hält nun den Däumlingen den Kopf frei. Und wofür?
Dafür, dass sie sich selbst neu erfinden.
Paulus verkündete vor Jahrhunderten ein Ich, das erst jetzt möglich werde, so Serres.
Und er geniesst es, wenn die Hörsäle von einem Stimmengewirr erfüllt sind, statt von höriger Aufmerksamkeit. Die Däumlinge wollen «weder lesen noch das gesprochene Geschriebene hören, weil alle Welt das Wissen, das da verbreitet wird, bereits hat.» Somit sind wir Lehrkräfte mit unserer ganzen «Geschwätzigkeit» überflüssig geworden.
Serres beklagt, dass Kriterienlisten die «Fruchtbarkeit des Entdeckens abtöten». Kein Campus, was eigentlich Militärlager bedeutet, während die Klasse ursprünglich eine in Reih und Glied aufgestellte Truppe meint, könne Zurüstung und Verbreitung von Wissen für sich alleine in Anspruch nehmen. Krebserforscher erführen mehr über diese Krankheit in Blogs von Betroffenen als in ihrer gesamten Studienzeit.
«Möge die Komplexität wachsen!» ruft Serres aus, quasi als Fazit, in das ich einstimme.
Auch Badiou sieht die Jugend befreit von althergebrachten Zwängen. Denn die Moderne habe endgültig damit aufgeräumt, dass eine Minderheit eine ohnmächtige Masse im Zaum hält. Daraus ergibt sich für die Jugend allerdings eine Spannung zwischen dem Bedürfnis nach gesellschaftlichem Erfolg und dem «Verlangen nach einem Leben, das sich in Freiheit selbst verbraucht».
Auch hat das unterschiedliche Folgen für beide Geschlechter. Die Aufhebung vieler Verbote hat eine Abfolge von Moden losgetreten, die die Jugendlichen in einer Art «endloser Adoleszenz» befangen hält. Das liegt daran, dass es keine verbindliche Form der Einweihung mehr gibt, wie es der Militärdienst früher für Männer, die Ehe für Frauen war. Diese scheinbare Orientierungslosigkeit der Jugend macht älteren Generationen besonders Angst.
Die Einweihung gehört zu einer traditionellen Hierarchie, die verabschiedet ist. Gewiss seit dem so genannten Tod Gottes, der jeder Hierarchie «Garant und Schlüssel» gibt. Stattdessen herrscht nun marktorientierte Sachlichkeit. Die ewige Adoleszenz, so Badiou, sei «die organische Dressur im Dienste der Konkurrenz auf dem Markt». Den Söhnen ohne Einweihung bleibt nichts, als ihren Körper mit Porno, Drogen, Sex und Tatoos zu pervertieren. Oder sie opfern ihn als Terroristen. Die bestmögliche Anpassung aber liegt darin, dass man sich einen «verdienender Körper» zulegt. Und der Zweck schulischer Bildung beruht heute «in verschärfter Form» darauf, dass man den verdienenden Körper von anderen Körpern absondert. Im Gegensatz zu ihnen wird er notfalls auch polizeilich in Schutz genommen. Daran zeigt sich, dass für Badiou eine Theorie der Klassengesellschaft Hand und Fuss hat.
Mit dem verdienenden Körper könnten sich Mütter und Väter bestens abfinden. Badiou jedoch sieht ein «wahres Leben», das jenseits von Hierarchie und Marktorientierung liegt. Allerdings verrennt er sich nicht in grosse Worte darüber, was dieses Leben sein soll. Sein Verdienst liegt darin, dass er überhaupt darauf aufmerksam macht.
Eine Andeutung findet sich in seiner Aussage, das wahre Denken sei die Schwester des Traumes. Hier wäre wohl Badious schönstes revolutionäres Potential zu orten.
Töchter hingegen, die früher erst durch Heirat zu Frauen wurden, ergeben sich einer Frühreife, die sie längst in sich erahnen. Das Mädchen wird vorzeitig erwachsen. Aber Badiou meint, beiden fehlten Ideen, wohl für ein wahres Leben. Dem Sohn, weil er zu wenig Mann ist, und der Tochter, weil sie zu viel und zu früh Frau ist.
Für die Frau bedeutet die Freiheit von der Hierarchie zugleich eine Erlösung aus einem Geviert von fixen Vorstellungen: Hausfrau, Verführerin, Liebende, Heilige. Die eigentliche Frau gleitet seit je dazwischen, schwer fassbar für den Mann, der auf die klar bestimmte Eins bedacht ist.
Einmal mehr ist das Wahre das verfemte Dazwischen.
Was genau die Frauen aus ihrer neuen Lage machten, wisse Badiou nicht, aber sie hätten sein vollstes Vertrauen. Und er schliesst mit den Worten:
«Schöner, wahrer Himmel, schau, wie ich mich verändere.»
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