Das Volk kifft. Früher offen, heute versteckt.  In Politik und Industrie gönnen sich Verantwortliche allabendlich eine Lunte. Ganze Schulklassen stellen eine Mehrheit an Kiffern. Geschlotet wird weniger aus politischer Überzeugung wie in den 70ern, auch nicht zu purer Belustigung wie vor zwanzig Jahren. Heute nimmt man sich unbeirrt das Recht auf Ausgleich nach einem durchnormierten Alltag.

Diese Entschiedenheit sollte nachdenklich stimmen, gerade wenn man eine ganze Zivilisation vor die Hunde gehen sieht. Legalisierung schert mich keinen Deut. Mich interessiert der allfällige Wert dieser völkstümlichen Kifferei.

Was verboten ist, hat sehr oft soziale Bewandtnis. Dazu ein Beispiel: Menschen gezielt zu töten ist gesetzlich untersagt, im Krieg jedoch Vorschrift. Das liegt daran, dass das ganze Gemeinwesen, dem man angehört, von dieser Tötung Nutzen zieht. Wer hingegen für sich kifft, pflegt puren Eigennutz. Will man die Kifferei verteidigen, gilt es, ihren sozialen Nutzen herauszustellen. Gezeigt werden muss also, dass jemand, der eigennützig kifft, dies zugunsten anderer tut.

Ein unlösbarer Widerspruch? Keineswegs.

Alkohol geniesst unbestritten einen hohen sozialen Wert. Sein Gift hellt nicht nur die Stimmung auf. Er verhilft manchem Vertragsabschluss auf die Sprünge. Überhaupt schmiert er Geschäftsbeziehungen, von denen ein ganzes Bruttoinlandprodukt Aufwertung erfährt. Nebenbei bringt er heillos zerstrittene Verwandtschaften am Grab ihrer Verstorbenen für einige Zeit wieder zusammen.

Wie aber steht es um den sozialen Wert des Kiffens? Unter Kiffern sind Zeugnisse der folgenden Art in Umlauf: Jemand erzählt, für ihn sei immer klar gewesen, dass sein Vater zeitlebens schmerzlichen Abstand zu ihm gehalten hätte. Diese Ansicht war einmal nüchtern und zweckmässig gefasst worden. Seither belastete sie Umgang und Stimmung innerhalb der Familie unverändert über Jahre hinweg. Wie nun aber diese Person eines schönen Abends an einer Lunte zieht und wegdämmert, erinnert sie eine wunderbare Nähe des Vaters, die seine ganze Kindheit über anhält. Die nüchterne Klarheit, sonst täglich erwünscht und gefordert, erwies sich als verkrampfter Starrsinn.

Mit asozialer Wirkung.

Das mögen Einzelfälle sein. Unter Kiffern jedoch findet sich ein hohes Verständnis für Menschen mit psychischen Belastungen. Das liegt daran, dass auch sie hin und wieder die Orientierung verlieren. Auch kommt es vor, dass ein Fahrkartenautomat sie überfordert oder die Handhabe einer handelsüblichen Fernbedienung auf einmal völlig unerklärlich erscheint. Dazu gehört auch eine gelinde Form von Verfolgungswahn. Denn selbst der passionierteste unter ihnen kann nie haargenau abschätzen, ob sein Verhalten auffällt oder nicht. Im Gegensatz zu Leuten, die dauerhaft nüchtern sind, gelingt Kiffern ein hohes Mass an Einfühlsamkeit bei Menschen, die aus pathologischen Gründen fast täglich mit solch kuriosen Herausforderungen beschäftigt sind.

Und vor allem: Kiffer bewerten diese Menschen nicht. Sie begegnen anderen von allein auf Augenhöhe.

Vielleicht sollte man in dieser Angelegenheit einen besonderen Kenner zu Rate ziehen, nämlich den von Soziologie und Literatur hoch geschätzten Walter Benjamin. In seinen Protokollen zu Haschisch spricht er zwar von «Wortaromen», wenn er die Wirkung des Harzes erkundet. Das dürfte den Bereitwilligsten, der sich in dieser Sache um Kenntnis bemüht, wohl leicht überfordern. Aber es finden sich sonst Passagen von berückender Schönheit:

Man werde so zart gestimmt, notiert Benjamin, dass man fürchte, der Schatten, der auf ein Papier fällt, könne ihm schaden. Auch fühlte er sich von einer Erscheinung so zauverhaft berührt, dass er in einem Traum über sie versank. Eine Frau tanzte, und Benjamin «trank jede Linie, die sich an ihr bewegte».

Auch zu der Frage nach dem sozialen Nutzen der Kifferei, die eine durchwegs politische Frage ist, wird man bei Benjamin sehr wohl fündig. Er spricht von «unbegrenztem Wohlwollen» gegenüber dem, was ihm begegnete. Der Ekel schwindet, sagt er. In jedem Gesicht von Passanten tauchte ein Bekannter auf. Dies wohlgemerkt in Marseilles, wo Menschen aus Marokko und Algerien in hoher Zahl anzutreffen sind.

Beachtlich also, wie sich dem Kiffer ein ungewollter Antirassismus förmlich aufnötigt.

Diese Vertrautheit führte offenbar dazu, dass bei Benjamin die «zwangsneurotischen Angstkomplexe versagten», die ihn sonst quälten und dafür sorgten, dass er zu anderen Menschen Abstand hielt. Die typische Desorientierung des Kiffers findet Benjamin heilsam, da er in seiner Umwelt, gerade dank der Irrtümer, die sich so ergeben, neue «Verwandtschaften und Identitäten» ausmacht.

Und dass im Rausch Dinge zu Wort kämen, ohne um Erlaubnis zu fragen, belegt sogar einen gewissen demokratischen Grundzug der Kifferei. Wie beim Antirassismus wider Willen, wie bei der Tatsache, dass Kiffer Menschen sogleich auf Augenhöhe begegnen, so zeigt sich auch hier: Kiffer können nicht anders. Und das sollte gerade jene Ängstlichen besänftigen, die froh sind, wenn die Dinge von selbst ablaufen. Eine Automatik der Moral, was für eine Aussicht!

Bei all diesem «Entdeckerglück», so Benjamin, gehe man die gleichen Wege des Denkens wie vorher, nur scheinen sie nun wie «mit Rosen bestreut». Manch Kiffer bestätigt wohl auf Anhieb, dass die Schönheit, die er regelmässig erfährt, Einfluss nimmt auf die so genannte Realität dazwischen.

Als legte sich ein goldener Film auf das Leben überhaupt. Sprich auf Mitmensch und Umwelt.

Alles in allem dürfte damit belegt sein, dass man der Kifferei eine Sozialkompetenz der besonderen Art bescheinigen darf und soll.

Vielleicht ist sie in ihrer völkischen Verbreitung als eine Bremse anzusehen, die dem nüchternen Machbarkeitswahn westlicher Prägung nach Jahrhunderten von innen her wohl auf unabsehbare Zeit den nötigen Ausgleich verschafft.