Politiker jubeln bei ihrer Wahl. Eigentlich sollten sie weinen.

Was für eine verkehrte Welt, wenn der Triumph schon zu Beginn einer Bewährung erschallt. Stell dir vor, ein Athlet verspritzt schon vor dem Wettkampf seinen Schaumwein. In solchen Momenten sitzen Sportler brütend in ihren Kabinen. Gewählte Politiker sollten es ihnen gleichtun. Noch besser stünde ihnen an, ungerührt zu sein. Kein Jubeln und kein Jammern. Das gilt auch für die beglückte Wählerschaft. Ihre Siegesstimmung ist genauso verfrüht wie die Wut der Verlierer, denn die Probezeit beginnt doch erst. Und die Prüfungen, die folgen, sind für Politiker knüppelhart. Man weiss es doch.

Politiker lehnen sich weit aus dem Fenster. Nicht so wie wir, die wir in Hausschuhen stecken, während wir unsere Stimmzettel ausfüllen. Auch Firmenchefs verfangen sich in keiner vergleichbaren Öffentlichkeit. Gewählten Politikern stehen schlaflose Nächte bevor, sofern sie nicht gerade zum Parlamentarier berufen sind. Immer wieder staune ich über die Begeisterung, die solche Kandidaten auf allen Bühnen kundtun. Wie kann man der Überzeugung verfallen, man sei dazu berufen, dass man die Verhältnisse endlich und endgültig zum Rechten wende.

Oder zum Linken.

Parteien unterscheiden sich davon in keiner Weise. Sie mögen ausgeklügelte Programme vorstellen und in Behörden, Ausschüssen und Workshops über kniffligen Sachverhalten brüten. Sie führen harte Wahlkämpfe. Ihr Erfolg, so die Meinung, verdankt sich Kritik und Argumentation. Aber Argumente sind nicht zeitlos gültig, wie erhofft: Die Flüchtlingskrise hatte einen Rechtsrutsch zur Folge. Fukushima verhalf den Grünen kurzfristig zu mehr Einflussnahme. Diese Triumphe sind nun ganz und gar unverständlich. Denn auch lawinenartige Zustimmung legt sich innert Kürze. Der Erfolg eines Programms hält heute kaum eine Legislatur durch.

Wie denn soll ein politisches Programm alle erdenklichen Vorkommnisse und Verwicklungen von globaler Reichweite bestmöglichst beantworten können? Nur allzu rasch wehen neue Winde.

Unser Wahlverhalten erinnert eher an verlangsamte Reflexe, als an Vernunft mit Umsicht. Oder es ist ein strichgerader Weitblick in die Zukunft, den wir für sehr weise halten. Ganz einfach, weil er unseren Interessen entspricht. Das macht ihn so objektiv gültig. Dabei halten wir unser Programm nur von vielen Belangen gesäubert, die anderen am Herzen liegen. Das macht es so linear.

Und so dumm. Es ist die Linie eines Wühlers.

Auch die politische Mitte, das vielleicht am meisten durchdachte Programm, entstand nicht einfach so auf dem Reissbrett der Vernunft, sondern ging aus zwei Weltkriegen hervor.

Aus Bauchkrämpfen einer ganzen Menschheit.

Reflexe dieser Art wirken plump und berechenbar. Das nährt Verschwörungstheorien. Man sorge für die entsprechenden Ereignisse, wenn die politische Lage in eine bestimmte Richtung laufen soll. Angeblich war die Flüchtlingskrise seinerzeit dazu gedacht, dass sie in Europa rechtslastige Kräfte anreizt, damit ein eurasisches Grossreich unter russischer Führung in Greifnähe rückt. Oder damit die Lücken in den Reihen fortpflanzungsunwilliger Europäer geschlossen und die Dichte an künftigen Steuerzahlern gewährleistet wird. Aber auch Geschichten dieser Art gehen zu schön auf. Genau wie Parteiprogramme. Als könnte irgendjemand globale Vorkommnisse vorausberechnen. Als wäre irgendjemand gefeit vor Überraschungen mit planetarischer Wirkung.

Politiker sichern sich ab, wenn ihr Scheitern droht. Sie tun es schon vorher. Die einen schlagen Anker im völkischen Sumpf und ziehen dabei etwas Moder hoch wie Schmutzwasser im Gewebe. Andere riegeln den Sumpf ab mit einem Netz von Technologie und Bürokratie. Man wollte ihn schon trockenlegen, aber die Sumpfbewohner, die einfachen Massenmenschen, wie man sie nennt, setzten sich zur Wehr, in Braun und Schwarz gleichgeschaltet, unter Leitung ihrer ungehobelten Führer, die sie sich zurechtjubelten. Ich weiss nicht, ob sie überempfindlich und allzu todesängstlich waren. Oder ob die Techniker, die Politbürokraten und Politnetzwerker, die zur Trockenlegung Kanäle, Schleusen und Pumpwerke einrichten, übervorsichtig sind oder ihrerseits unter Druck stehen. Beides ist anzunehmen.

Heute wird mit dem Sumpf anders verfahren. Ein sublim gezüchtetes Kreditwesen ruht wie Schaum auf ihm und zehrt davon und zerfällt bei Zahlungsunfähigkeit und vergifteten Kreditstöcken bis zur massenhaften Enteignung.

Es sind die Ängste der Menschen, die die Politik zur Bauchsache machen.

Dabei ergibt sich eine weitere Sinnwidrigkeit: Politik zielt auf Sicherheit ab. Vielleicht geht das immer auf Kosten anderer. Die eigentliche politische Frage, die sich bei zunehmender planetarischen Dichte an Menschen notwendig stellt, lautet nicht, wie wir uns vor anderen absichern, sondern wie wir es schaffen, dass andere sich vor uns nicht ängstigen.

Aber dieses Anliegen verkauft sich schlecht. Der gegenwärtige Politbetrieb ist weit entfernt davon.

Eben: Politiker lehnen sich weit aus dem Fenster. Sie tun es auch für andere. Und damit es Leute gibt, die so etwas auf sich nehmen, wie ein Ministerium zu leiten oder, tiefer gelagert, einer sonstigen Behörde vorzustehen, braucht es Personen wie mich, der ihnen lobhudelt und sie dazu anfeuert. Bei Sieg herrscht Eintracht, der Weisswein fliesst, perlend oder nicht. Im Falle des Scheiterns beteuern die Gewählten zu Recht, sie seien auf diese verantwortlungslastige Position geschoben worden. Mit dieser Rechtfertigung finden Angeklagte vor Gericht Gehör. Das Strafmass richtet sich nach Grösse und Qualität ihres Spielraums. Man gönne Politikern den gleichen Grossmut. Oft genug erklärt sich eine politische Halunkerei als anfängliche Verantwortung, die auf einmal trickst, da sie unter Druck gerät. Der Grad an Verruchtheit dieser Halunkerei legt nur die Druckverhältnisse bloss, ihre Reibung, ihr Getriebe, ihre Tödlichkeit.

Für solche grenzwertigen Momente gibt es keine Schule zum Üben. Oder die Volksschule ist so, wie sie ist, da sie Jugendliche im Sinne eines Trainings genau in solche Lagen bringt, wo es bald  nur folgerichtig erscheint, wenn sie irgendwann tricksen lernen. Für eine Minderheit sind die künstlichen Welten der Schule sehr wohl ohne Trickserei zu schaffen.

Aber das Leben sieht anders aus. Es kommt da zu Druckverhältnissen, die nicht beübbar sind. Vielleicht werden sie unter uns totgeschwiegen. Man stelle sich vor, es wäre an einem einzelnen Politiker gelegen, den Brexit zu beschliessen.

Jugendlichen wird Trickserei als Übertritt angelastet. Unter Staaten sowie auf Märkten sind Tricksereien seit je als geheiligte Mittel zum Zweck gang und gäbe. Und der Zweck ist immer gut. Für jemanden. Aber nicht immer für mich. Das ist mir ein politischer Grundsatz, wenn auch ein spitzfindiger. Mindestens gibt er zu denken. Man muss einfach darauf Acht geben, dass die Trickserei, die man einfädelt, mehreren nützt, besser einer ganzen Gruppe, vorzüglich aber einem ganzen Volk. Dann wird sie als Pflichtkür gutgeheissen und gelobt.

Dazu kommt diese leide Geschichte, wie sich Staat und Wirtschaft zueinander verhalten sollen. Freier Markt und Wettbewerb oder Umverteilung von Überschüssen? Wähle ich, was Keynes empfiehlt oder die Chicago Boys? Keine Ahnung, wer Recht hat. Für beide werfen sich angesehene Fachkräfte ins Zeug. Ich bin nicht in der Lage, ihre Eignung richtig einzuschätzen. Im einfachsten Fall nehmen sie den Mund voll. Sie übertreiben ihr Anliegen, damit es aufschreckt. Dadurch bringen sie es eigentlich in Gefahr, denn so wird es umso härter angefeindet. Freier Markt oder Umverteilung sind Modelle, für deren Erfolg es noch keine statistische Rate gibt, die eine vertrauensvolle Regelmässigkeit abbildete. Oder es sind Statistiken zuhauf greifbar, die einander den Wind aus den Segeln nehmen. Im schlimmsten Fall haben beide Recht.

Davon gehe ich aus. Schliesslich macht man das so: Rein zur Sicherheit wird einfach der schlimmste Fall angenommen. Das ist ökonomisch, aber ist es auch vernünftig? Ich wähle, was meinem Leben entspricht. Und ich sehe Mitwähler als Personen an, die genauso vorgehen. Zum Beispiel solche, die sonntäglich sogar an die Urne joggen.

Gerne sehe ich mich an das Wort erinnert, das Voltaire zugeschrieben wird: «Ihre Ansicht, mein Herr, missfällt mir. Aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie äussern können.»

John Locke meint, Politik sei Verstandessache. Menschen seien von Natur aus mit Verstand gerüstet, also gehörten sie an den Tisch, an dem Politik verhandelt wird. Vielleicht muss man das umdeuten: Politik ist Bauchsache. Alle Menschen haben Bauch. Also möge sich daran beteiligen, was Bauch hat. Ob man nun aus der Hochfinanz stammt, aus Somalia oder aus dem Rostgürtel im Nordosten der USA.

Immerhin läuft beides auf Demokratie hinaus.

Die Mehrheit muss es richten. Wer sonst? Laien machen Fehler, Fachkräfte ebenso. Spezialisierte Gremien sind besonders gefährdet, dass sie abgeschottet und immunisiert in die immer gleiche Richtung steuern. Die einen sagen, in die falsche, andere, in die richtige. Keine Ahnung, was im Einzelfall zutrifft.

Was heute richtig scheint, ist morgen überholt.

Ob die Mehrheit den richtigen Weg findet, ist allerdings genauso fraglich. Warum gerade sie? Der sinnvolle Zweck, wenn die Mehrheit die Minderheit beherrscht, liegt anderswo: Stabilität ist garantiert. Mehr nicht. Und zwar langfristig. Ob der Entscheid gut ist oder schlecht, spielt dabei keine Rolle. Wenn Minderheiten die Mehrheit bevormunden, führt das zu leidvollen Umbrüchen. Hätte der Bundesrat im Alleingang den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt, wäre ihm die Schlappe der Swissair zur Last gelegt worden. Da nun die Volksmehrheit diesen Schaden mitverantwortet, fällt es gar nicht auf.

Wer will schon eine Mehrheit aus dem Land schmeissen. Oder auf Holzbeigen verbrennen. Was für ein Aufwand wäre das.

Aber die Mehrheit ist kein Volkswille. Dieser romantische Abklatsch hat noch nicht ausgedient, wie es scheint. Relatives und Absolutes Mehr, Volksmehr und Ständemehr sind kluge Spielregeln, mehr nicht. Die Volkmasse kommt mir eher wie ein Schwarm vor oder wie ein Walfisch, der mal nach rechts, mal nach links tümpelt: Die Schweizer hiessen die Abzocker-Vorlage gut, verwarfen aber ihre Verschärfung. Auch beim Nichtrauchen wollte man im Triumph nachlegen und erlitt Schiffbruch. Ebenso wurde die Beschränkung an Zuwanderung gutgeheissen, die wörtliche Durchsetzung dieser Vorlage jedoch abgelehnt.

Kompromiss, Konkordat, Ausgleich, Balance. Die Mitte ist durchaus ein Bekenntnis.