Du bist süchtig! Bin ich süchtig? Das Urteil ist rasch zur Hand. Und es teilt hart aus. Wir zücken es wie Küchenmesser. Fachleute hingegen zögern lange damit. Denn Sucht meint auch Unmündigkeit. Das müssen wir umdeuten, sofern wir einen radikalen Humanismus wollen.
Süchtigen bleibt immerhin ihre Würde, sollten sie auch unmündig sein. Das dürfte schon einmal zu denken geben. Wie Komapatienten oder Säuglinge im Brutkasten, die vollständig unmündig sind. Aber sie haben Würde. So will es das Menschenrecht.
Mit Süchtigen haben wir auch gemeinsam, dass wir alle nach guten Gefühlen trachten. So spricht die Wissenschaft. Also kann ich niemanden aburteilen oder verachten, der wie ich auf gute Gefühle aus ist. Die Quellen dafür sind vielfältig: Vergnügen, Rauschmittel, Sex, Reisen, Künste, Sport und Spiel, Karriere, Fürsorge.
Und welche Quellen wir für gute Gefühle bewirtschaften, unterliegt zu einem grossen Teil den Zufälligkeiten des Lebens.
Wie kommen wir zu besten Gefühlen? Ein Heroinsüchtiger macht klar, dass der Stoff ihm die Angst vor dem Leben nimmt. Da bleiben wohl kaum Alternativen. Vielleicht ist ein Süchtiger eine Person, die um eine einzige Quelle an guten Gefühlen kämpft, die ihr zurzeit noch bleibt. Und zwar aus Gründen, die einsichtig wären, würden wir sie kennen. Gründe auch, die niemand ohne Weiteres unter Kontrolle hat. Auch sind Menschen zu erwägen, die auf ihrer Suche nach Quellen für gute Gefühle eine Reihe von Misserfolgen bewältigen.
Und nicht jede Niederlage ist automatisch eine Chance für sie.
Man lässt die Möglichkeit ausser Acht, dass der Süchtige längst andere Quellen versucht hat. Überhaupt haben die Unterstellungen, mit denen wir Süchtige belasten, die Qualität eines Übergriffs: Sie bemühen sich nicht um Alternativen. Und sie wollen einfach nicht, wie es alle sollten. Meistens fehlen uns die Informationen, die für Urteile solcher Art nötig wären.
Denn ob jemand etwas nicht kann oder es nicht will, lässt sich von aussen nicht entscheiden. Nicht einfach so. Und schon gar nicht wissenschaftlich. Also könnte ich genauso gut sagen, dass Süchtige diese eine Quelle für ihr Wohlbefinden immer neu wählen.
Nicht die Sucht fesselt ihren Willen, sondern sie wollen immer wieder ihre Sucht, weil sie beste Gefühle einbringt.
Diese Lesart scheint mir aus radikal-humanistischen Gründen zwingend, auch wenn sie die Vorsätzlichkeit des Süchtigen verschärft.
Das Einzige wollen, was einem bleibt, wäre jedoch keine Wahl mehr. Das beweist die Unfreiheit des Süchtigen.
Das würde bedeuten, dass ein Mensch unmündig ist, wenn er nur eine Möglichkeit für einen bestimmten Zweck hat und keine Alternative dazu. Gegen diese Ansicht gäbe es vergleichbare Beispiele zur Genüge: So etwa Martin Grey, der im Warschauer Ghetto und in Treblinka dürftige Möglichkeiten zum Überleben beim Schopf packte, alternativlos und auf die Sekunde. Niemals würden wir ihn deshalb für unmündig halten.
Süchtige bringen auf den Punkt, was uns unangenehm ist: Dass wir gute Gefühle suchen und alles tun, um Quellen dafür zu finden und uns zu erhalten. Und dass es zunächst und allererst um unsere eigenen Gefühle geht.
Das liegt irgendwie in der Natur der Sache.
Genau darin spiegeln uns Süchtige zu stark. Und das mögen wir nicht.
Kommentar verfassen