Engel sind wir keine, das steht fest. Aber sind wir wirklich triebhaft? Eindeutig, würde man meinen. Rückt man dieser Sache jedoch zu Leibe, verliert sich ihre Klarheit in angenehmer Unschärfe.

Eine Eidechse schlüpft aus dem Ei, sie wittert sogleich Gefahr. Wir erklären: Das ist Instinkt. Fertig. Das heisst eigentlich: Wir wissen nicht, was es ist.

Oder: Wir wissen, was es nicht ist. Das ist schon viel. Und das Loch, das noch klafft, deckeln wir mit einem Namen zu: Instinkt.

Eine Lösung aus Verlegenheit wird zu einer volkstümlichen Wahrheit.

Wie steht es mit dem Trieb? Menschen kennen keine Brunftzeit, das spräche schon mal gegen Triebhaftigkeit. Michel Foucault, ein Gigant unter Denkern des 20. Jahrhunderts, suchte nach dem erstmaligen Auftauchen des Ausdrucks ‘Trieb’, bezogen auf das menschliche Verhalten. Fündig wurde er im Jahr 1826. Eine Hausangestellte namens Henriette Cornier tötete ein Nachbarskind, das ihr anvertraut war, indem sie den kleinen Kopf abschnitt. Als die Mutter früher als vereinbart zurückkam und ihr Kind abholen wollte, meinte Cornier zu ihr, nun werde sie Zeugin vor Gericht sein.

Die Frau war bei Verstand gewesen, wie Abklärungen ergaben. Sie hatte die Folgen ihres Tuns selbst vor der Tat richtig eingeschätzt. Ein Delirium kam nicht in Frage. Auch spontaner Irrsinn blieb ausgeschlossen, da Cornier ihre Untat geplant hatte, indem sie genau zu diesem Zweck sogar anbot, das Kind zu hüten.

Die Frau wusste keinen Grund für ihren Mord. Auch ihre Lebensgeschichte lieferte kein Motiv, das unbewusst geblieben wäre. Vielleicht wollte sie einfach aus dem Verkehr gezogen werden, schwieg jedoch darüber. Wiederum wusste man hier, was nicht der Fall war. Und das Loch des Nichtwissens klaffte auch hier und stiftete Verlegenheit unter Fachleuten. Ein Deckel ward gesucht. Also fing man an, von einer «triebhaften» Tat zu reden, der ein «barbarischer Trieb» zugrunde liegen soll.

Damit fand ein Fachbegriff aus der Botanik, der einen beobachtbaren Vorgang benennt, kurzerhand Anwendung auf das Innenleben eines Menschen. Ohne jede Abklärung. Einfach so.

Und verbreitete sich als volkstümliche Wahrheit, die uns bis heute umtreibt.

Diese liederliche Übertragung belegt, wie dringend die Sache war. Noch heute finden wir es problematisch, wenn ein verständiger Mensch eine Tat ohne Grund begeht. Das stört unser Weltbild enorm.

Die Sorge um dieses Weltbild überwiegt die Belange solcher Einzelheiten. Ob wir also wirklich triebhaft sind oder nicht, ist damit völlig offen.