Zürich, Hauptbahnhof. Von der Time Lounge aus überblickt man das bunte Geschehen in der Bahnhofshalle. An diesem Ort gewöhnt man sich die Überzeugung ab, das Leben könnte sinnlos sein.
Erst durchkämme ich selbst die Halle, wo früher die Zeittafeln der Abfahrten wie Wimpern flirrten. Es hat seinen Reiz, wenn man sich in Menschenmassen treiben lässt. Je nach Umständen aber schlägt es aufs Gemüt. Augen, Gesichter, farbige, geschminkte, gepiercte, gegerbte, sie tauchen flüchtig auf. Hände mit Händys, mit Brezeln, Zigaretten. Kopfhörer, Frisuren. Schimpfen, Lachen, Kinderweinen. Geschultertes, gekarrtes Gepäck, zumeist Rollkoffer. Angeleinte Hunde. Gesprächsfetzen. Düfte.
Es sind Schlaglichter des Lebens. Blosse Splitter, kein Zusammenhang. So wird man sehr leicht von der Sinnlosigkeit des Lebens überzeugt. Ein Nihilismus kommt auf, in dem sich gerne suhlen lässt. Wer sich mit diesen Eindrücken begnügt, sitzt einer pubertären Täuschung auf.
Denn diese Splitter gehören jeweils zu einer Geschichte, die unsichtbar bleibt, wenn man sich in Menschenmassen bewegt.
Die Time Lounge bietet ein Mittel gegen diese selbstgefällige Schwermut. Es kostet höchstens eine Konsumation. In meinem Fall ein gesüsster Kaffee mit Sahnehaube, später ein Bier. Nun braucht man nur auf das Menschengewimmel durch die Glasfassade der Timelounge herrabblicken, eine Person oder zwei ins Auge fassen und ihr folgen. Und schon läuft eine Geschichte ab: Da sind Jugendliche, die in der Menge kreisen und nach Kollegen Ausschau halten. Ein Werktätiger bespricht Termine mit der Agenda in der Hand. Später sieht man ihn eine Bratwurst verzehren. Eine junge Frau schiebt ihr Fahrrad, sie hält an, um die Einkaufstüte auf dem Gepäckträger besser zu befestigen. Anschliessend kauft sie eine Limonade und eine Zeitung und verlässt die Halle. Ein älteres Paar mit Rucksack und Wanderstöcken schlendert vorbei. Sie begutachten die Zeittafeln. Der Mann deutet mit dem Stock in die Höhe. Jemand knipst Fotos, wo immer er sich aufhält. Ein Kunst-Student vielleicht. Eine Frau bleibt stehen, wühlt in ihrer Tasche, geht ein paar Schritte, wühlt erneut darin. Dann die vielen Momente von Begrüssung und Abschied. Momente des Wartens, des Herumstehens.
Geschichten haben Sinn, sonst wären sie keine.
Vor Jahren stand mitten in der Halle eine alte Frau auf ihren Rollstuhl gestützt. Man erzählte mir, sie habe die Menschen gesegnet, die hier kreuzten. Dazu brauchte sie keine Lounge mit Glasfassade.
Sie segnete ein Gewimmel von Geschichten.
Keine namenlose Menschenmasse, sondern ein Gewimmel von Sinn.
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