Die kleinste Form von Gesellschaft sei der Brauttausch unter Familien, so Claude Lévi-Strauss. Dieses Modell dürfte kaum mehr ausreichen, wenn man die heutigen Verhältnisse in der gleichen Einfachheit fassen möchte. Aber vielleicht gibt es andere Möglichkeiten.

Zum Beispiel so: Gesellschaft ist eine Umverteilung von Angst. Und zwar folgender Art: Wer mehr Angst hat als andere, jagt denen Angst ein, die weniger Angst haben, damit sie mehr Angst haben und er weniger. Denn wenn sie mehr Angst haben, sind sie wie er auf der Hut und sorgen so für mehr Sicherheit. Die Entspannten aber nehmen Rache, indem sie die pflichtbewusst Furchtsamen zusätzlich verängstigen.

Zum Beispiel durch Provokation.

Ich nenne den Furchtsamen den Moralisten. Sein Gegenspieler wäre der Hedonist, der das Leben lässig führt, statt dass er es zugunsten aller absichert. Der Moralist sagt: ‚Die Welt ist böse, ich weiss es, habe es zigfach erfahren. Wir müssen zum Rechten sehen!‘ Dem entgegnet der Hedonist: ‚Die Welt ist gut, ich weiss es, habe es zigfach erfahren. Was du Pflicht nennst, verbreitet nur Angst!‘ Wie zu erwarten nehmen beide ihre Erfahrungen ernst. Sie halten sie für Naturgesetz, was zu denken gibt.

Auch wenn meine Sympathie dem Hedonisten gilt, anerkenne ich notgedrungen, dass mein Leben bislang durch Zufall vor Härterem verschont blieb: Kein Hass, keine Rache, keine Flucht, kein Missbrauch, kein Durchdrehen, kein unglückliches Wegsterben, keine Revolution, kein Krieg, kein Hunger.

Die Einen wollen die Tür verriegelt zur Welt, andere sie offen stehend. Es gibt keinen Ausweg, man wird sich nicht einig. Diese Umverteilung von Angst ist ein Wettrüsten unter Menschen, eine Art Krieg strenggenommen. Den einzigen Ausweg sehe ich darin, dass man den Moralisten ihre Angst nimmt. Aber wie könnte das gehen?