Die Jugend konsumiert auf ihren Handys blödsinnige Kurzvideos am Laufmeter. Was mich amüsiert, empört eine beachtliche Mehrheit. Die Jugend verwahrlost. Seit Menschengedenken wird dieses Moralin vergossen. Warum sollte es gerade jetzt verstummen? Ein Versuch wider diese Sturheit seit je hingegen lohnt sich alleweil.

Letzthin war Moongirls Kleine eingeschlafen, während ihr Händy weiterlief. Ich kam nach Hause und lauschte begeistert. Jemand rezitierte gerade das längste englische Wort, das es nicht gibt. Die Aufnahme lief während Minuten. Es klang tatsächlich englisch, aber ich verstand nichts davon. Meine Stimmung war ohnehin etwas verklärt nach fünf Stunden abendlichen Ausgehens, das ich hinter mir hatte. Die Jugend verwahrlost also einmal mehr. Dieses Urteil hält sich hartnäckig von alters her, aber noch nie hat es Recht bekommen. Der allseits hochgelobte Fortschritt widerlegt es mit der gleichen Regelmässigkeit. Dieser Fortschritt fände gar nicht statt, würde die Jugend andauernd verwahrlosen.

Wer also den Fortschritt lobt, muss umdenken, wenn es um die Verwahrlosung der Jugend gehen soll.

Beide Urteile sind nicht zeitgleich zu haben.

Folgendes fiel mir ein, als ich dem Video mit dem längsten englischen Wort lauschte, das es nicht gibt, nämlich:

Spieltrieb.

Das gilt für die Produzenten des Videos genauso, wie für seine Konsumenten. Spieltrieb klingt schon lebensfreundlicher als das Verdikt der Verwahrlosung. Im Nu jedoch sitzen wir einer Art calvinistischen Haltung auf, indem wir klarstellen: Spieltrieb ja, aber nur dann, wenn es angebracht ist. Und bloss in Massen, wie es sich schickt.

Meinetwegen. Aber mir kommt das Gähnen. Denn das Thema Spieltrieb birgt mehr Potential als es scheint: Attenborough porträtiert eine Herde Delfine, die auf dem Weg zu ihren Futtergründen immer wieder Halt machen muss, damit die greisen Tiere ihr Schläfchen abhalten. Die Jungtiere müssen an Ort und Stelle die Zeit totschlagen. Einmal befinden sie sich gerade in einem Riff. Beinah aus Langeweile heben sie tote Korallenstückchen vom Boden auf, tragen sie hoch und lassen sie fallen. Die Delfine hängen im Halbkreis im Wasser und schauen zu, wie die Stücke wieder zu Boden gleiten. Je nach Beschaffenheit wirbeln sie herum, wenden sich hin und her oder tanzen wie auf und ab. Die Tiere geben Laute von sich, je auffälliger oder umständlicher ein Korallenstück zu Boden sinkt. Dieses Verhalten dient weder der Ernährung, noch der Fortpflanzung.

Es ist so unsinnig oder nutzlos wie das Video vom längsten englischen Wort, das es nicht gibt.

Oder es zeigt: Der Spieltrieb bedeutet weiter nichts, als dass man erworbene Fertigkeiten, wie Wörter rezitieren oder die Dinge mit dem Maul aufheben und fallen lassen, in Bereichen zur Anwendung bringt, die dieser Tätigkeit zunächst fremd zu sein scheinen. Solche Vorgänge lassen sich mit Fug und Recht als kulturelle Evolution ermitteln, denn sie dienen weder der Fortpflanzung noch der Ernährung. Auch wenn diese Evolution bei den Delfinen vielleicht zu nichts Nützlichem führt, was ihr Leben insgesamt verbessern könnte, so ist doch in ihnen ein natürlicher Spieltrieb angelegt, der anderswo zu neuen Erkenntnissen führen kann. Man darf nicht vergessen, schliesslich sind auch Delfine erfindungsreiche Jäger.

Und was Moongirls Kleine anbetrifft, so steht für die Mehrheit fest, die sich empört, dass dieser unsägliche Videokonsum ganz gewiss nur überflüssig sein kann. Aber wer weiss schon, was ein Video mit dem längsten englischen Wort, das es nicht gibt, an kultureller Evolution auslösen kann? Ob bei der Kleinen oder sonstwo. Vielleicht fühlt sich jemand dadurch zu einer Idee angeregt, die unerwartet einen gesellschaftlichen Nutzen abwirft. Mit ihrem Moralin massen sich Kritiker an, in die Zukunft zu blicken, indem sie an der grundsätzlichen Nutzlosigkeit solcher Tätigkeiten festhalten.

Eine Hybris schlechthin. Und wie jede Hybris gehört sie korrigiert.

Denn niemand ist in der Lage, alle Situationen vorauszuberechnen, die für das Leben wichtig sein könnten.