Friedhof Herisau: Ich stecke meinen Schreiber in Robert Walsers Grab, genauso wie bei Camus in Lourmarin oder bei Joyce in Zürich, auf dass mein Schreiben Unterstützung finde.
Noch während ich das tue, sehe ich Walser abwinken, bescheiden, aber nachdrücklich, als wäre ihm dieser Dienst zuviel. Ich muss ihn überreden. Dann setze ich mich auf eine Bank und versinke in Wachträume, angeregt von dem Ort und einem zarten Flattern im Wind, dem ich zunächst keine Beachtung schenke.

An die wenigen Texte, die ich von Walser gelesen habe, erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Sicher aber dies: Das Schwimmen des Sekretärs im sonnengewärmten Zürichsee. Robert Walser der Nachtläufer. Er war in Wälder verliebt. Genauigkeit fand er poetisch. Dann immer wieder: Der Schnee. Schläfrig taucht eine Erinnerung auf, mein Spaziergang zum Platz, an dem Robert Walser gestorben ist, auf der Wachtegg bei Herisau, ein abschüssiger Ort, in der Nähe ein Gut, auf der anderen Seite ein Feldweg, der zu einem Wald führt. Der Schriftsteller kam die Halde herunterspaziert, er starb und rollte ein paar Meter im Schnee, kam auf den Rücken zu liegen, der Hut an der Seite, die Augen mit Erstaunen geöffnet. Seine letzten Schritte zeichneten sich als Spur im Schnee ab, die oberhalb des Leichnams unverhofft endete.

An dieser Stelle, so bemerkte ich, kann man den Bodensee und den Säntis gleichzeitig sehen.

Ein wahrer Platz zum Sterben.

Der Berg blieb zwar hinter dem kahlen Geäst eines Apfelbaums verborgen, womöglich stand der Baum damals noch nicht da. Ich weiss nicht, wie viele solcher Orte es in der Ostschweiz gibt. Irgendwann wird mir dieses Flattern bewusst. Etwas deutet sich an, ein Stück Welt, das mir unbewusst war und nun, warum auch immer, meine Aufmerksamkeit weckt. Ich öffne die Augen. Es sind bunte Windräder, in die Erde gesteckt wie mein Schreibgerät, etwas abseits von Walsers Grab gelegen. Ich trete näher.

Es sind Kindergräber.

Schweizer Vornamen sind da zu lesen und Widmungen voll bitterster Trauer. Einige Gräber sind üppig bestellt, mit Spielsachen, Rutschbahnen, Lampions und Figürchen. Zu ihnen gehören die Windräder. Ein ganzes Lummerland mit Tunnels und Seilbahnen erfordert hingebungsvolle, aber teure Grabpflege. Diese kleine Welt, die mich nun ergreift, hat sich über dieses Flattern angekündigt, das ich unbewusst vernahm. Ganz fein und geduldig am Rand meiner Schläfrigkeit. Als bewegten wir uns immer in Schichten oder Blasen, die zusammen eine Welt bilden, ob nüchtern oder unbewusst. Mein Bewusstsein entwuchs allmählich von selbst dem wohligen Dämmer auf der Bank, in dem es geraume Zeit haften geblieben war. So wurde es auf dieses Stück Welt aufmerksam.

Und es kam mir vor, als freute es sich, entdeckt zu werden.

Warum wird man wach? Es geschieht einfach. Jedenfalls liegt dem Erwachen kein bewusster Willensakt zugrunde. Manchmal stecken wir mitten drin, manchmal nur „beiseit“, wie es auf Walsers Grabplatte heisst. Ein zärtliches Gefühl befällt mich, eine besondere Art, in der Welt zu sein, die weder nüchtern noch schläfrig ist. Vielleicht deckt sich diese Befindlichkeit mit Robert Walsers Eigenart, feinste Nuancen von Welten zu empfangen, die er sehr oft beinahe verzweifelt zum Ausdruck brachte.

Dann hätte der Schreiber im Grab bereits zu wirken begonnen.

Und ich sollte noch tiefer in diese kleine Welt geraten: Am Ende der Reihe der Kindergräber, die ich gedankenverloren abschreite, liegt ein Grab mit nur einem Datum: Das Jahr der Geburt, das Jahr des Todes. Das kleine Feld ist mit Efeu bedeckt. Darin steckt ein schlichtes Holzkreuz. Sonst nichts. Keine Nippsachen, kein Lummerland.

Das Kreuz trägt den Namen eines arabischen Buben.