Eine Handvoll Stare rauscht über ein gerodetes Feld. Schwalben bevölkern eine Linde, bevor sie nach Süden aufbrechen. Vielleicht spielt das Schwarmverhalten auch unter uns Menschen eine Rolle. Mag sein, dass wir das beleidigend fänden, aber es würde Einiges erhellen.

Es beleidigt uns deshalb, da wir viel auf unsere Selbstbestimmung geben. Selbstbestimmung zählt zu den Grundwerten modernen Lebens. Sie bedeutet Wahlfreiheit und Eigenverantwortung. Beides verträgt sich kaum mit dem Verhalten eines Schwarmes. Seine Mitglieder haben keine Wahlfreiheit. Und Verantwortung wäre einem Schwarm als solchem schwierig anzulasten. Immerhin zeugt ein Schwarm von einer besonderen Intelligenz. Sie weckt sogar unsere Bewunderung, wenn zum Beispiel Makrelen ihre Angreifer täuschen. Dennoch sehen wir diese Intelligenz lieber der Natur und ihren Geheimnissen vorbehalten.

Schwarmintelligenz führt also auf eine gemeinsame Herkunft zurück, die wir immer wieder ausblenden. Aus guten Gründen, denn Wahlfreiheit und Verantwortung liegen uns eben besonders am Herzen. Das mag einer kleinräumigen, punktuellen Sichtweise geschuldet sein. Wenn man aber den Blickpunkt des Lebens als solchem einnimmt, sofern das menschenmöglich ist, spielen Freiheit und Verantwortung keine Rolle mehr. Leben überlebt und besteht fort, welche Mittel auch immer dazu nötig sind. Von daher lohnt sich die Vermutung, ob wir vielleicht als Schwarm organisiert sind, auch wenn wir es nicht bemerken. Wie so oft lenkt uns eine enorme Verstandesleistung von triebhaften Regungen ab. Wir halten unsere Instinkte für abgetötet oder zumindest für eingeschläfert. Vielleicht stimmt das nicht. Vielleicht funken sie so frisch und lebhaft wie je in unsere Hirnrinde. So bestimmen sie mit, was uns vernünftig erscheint und wofür wir uns gegenseitig zur Verantwortung ziehen.

Oder die Schwarmintelligenz wirkt unter uns ausgedünnt und abgeschwächt fort. Als eine Art Hauch davon. Ein Grund mehr, sich mit dieser Möglichkeit zu befassen.

Wie aber sollte ein Schwarmverhalten an uns ablesbar sein? Äusserlich wie eine Herde verhalten wir uns bloss in Notfällen. Hingegen wäre es aufschlussreich, ein Schwarmverhalten an uns zu erkennen, wenn wir ein geruhsames Leben führen. Da bietet sich neuerdings das so genannte mimetische Begehren an, das es allen erlaubt, die sich für aufgeklärt halten, einmal mehr den Massenmenschen blosszustellen. Denn mimetisches Begehren bedeutet, dass wir begehren, was andere begehren. Und zwar aus dem Grund, weil sie es begehren. Die Sache selbst muss uns gar nicht zusagen. Sollte es der Fall sein, dass wir damit auf ein Anzeichen von Schwarmverhalten gestossen sind, so kommen wir leider nicht umhin, dass wir das mimetische Begehren als besondere Intelligenz wertschätzen. Selbst wenn jemand Lippenstift mit Glitzer kauft, bloss weil er in Mode ist, ändert das nichts an dieser Intelligenz. Irgendwann ahmt die Person ein Verhalten nach, das gegebenenfalls ihr Leben retten wird.

Überhaupt bedeutet Nachahmung eine Art von Klugheit. In Natur wie Kultur. Sie gehört zum Ensemble an Eigenschaften, die für soziale Intelligenz stehen. So gesehen kommt uns das handliche Gegenbild vom dumpfblöden Massenmenschen allmählich abhanden.

Dieses Gegenbild wird jedoch spätestens dann einsichtig, wenn wir einen mimetischen Hass annehmen. Denn diesen muss es ja auch geben, sowie all die Nuancen dazwischen wie Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit. Sicherheitshalber lehne ich mal ab, was andere ablehnen. Von dieser Mimesis ist meines Wissens kaum die Rede. Und es fällt schwer, sie als Intelligenz anzuerkennen. Andernfalls aber müssten wir die Annahme einer Schwarmintelligenz überhaupt fallen lassen.

Ob mimetische Begierde oder mimetischer Hass, es dreht sich alles um Anschluss an andere. Und Anschluss wiederum bedeutet ein kniffliges Zusammenspiel zwischen Abstand und Nähe. Der Schwarm misslingt freilich dann, wenn seine Mitglieder zerstreut sind, aber auch, wenn sie aneinanderkleben. Nur ein gewisser Abstand zu anderen überlässt den einzelnen Teilnehmern eine Art Spielraum, aus dem heraus sie angemessen reagieren, wenn jähe Veränderungen durch den Schwarm zittern.

Auf uns Menschen übersetzt lässt sich also doch manch Erhellendes aus der Annahme ziehen, wir könnten als Schwarm organisiert sein: Bei aller Vernunft und Unvernunft geht es uns letztlich nur um Anschluss an andere, egal, wie wir gruppiert sind: Familien, Stämme, Völker, Ethnien. Das kann man verurteilen. Oder einfach anerkennen. Dann: Abstand und Nähe unter uns lassen sich nicht einfach so einfordern. Es braucht beides, damit der Schwarm gelingt. Fremdenfeindlichkeit verträgt sich genauso wenig mit Schwarmintelligenz wie das romantische Ideal eines Lebens zu zweit für immer und ewig. Weiter finden persönliche Eigenarten dank dieser Annahme eine unerwartete Erklärung: Der arabische Familiensinn zum Beispiel steht für alltäglichen Austausch, der eigenbrötlerische Autist für Rückzug von anderen.

Die schwarmintelligenten Regungen auf mehr Abstand oder mehr Nähe sind unter uns Menschen wohl unterschiedlich verteilt sowie unterschiedlich ausgeprägt.

Wie es in der Natur typischerweise der Fall ist.