Gewisse Leute stehen seltsame Ängste aus. In ihrer Not wirken sie selbstbezogen und überheblich. Eine Ungereimtheit, die zu denken gibt. Wie liesse sie sich auflösen?
Es braucht nicht gleich so weit zu gehen, dass diese Leute sich verfolgt fühlen. Feinfühligkeit reicht hin, körperlich wie mental. Dazu kommen schwere Träume. Selbst im Alter vermeiden sie Bestrafung in popligster Angelegenheit. Sobald sie Vorsorge treffen, wirken sie anstössig, denn auch soziale Belange ordnen sie den Massnahmen unter, über deren Erfolg sie Buch führen. So kann man ihnen nichts ausreden, Beschwichtigungen lassen sie kalt.
Dabei fällt auf, dass sie ihre Vorsorge nach Möglichkeiten berechnen, statt dass sie Wahrscheinlichkeiten abwägen. Das klingt nun tatsächlich nach einer Störung, wie sie bei paranoiden Menschen der Fall sein dürfte. Es wäre unsinnig, die Fenster im zwanzigsten Stock eines freistehenden Blocks zu verriegeln, damit keiner einsteigt. Die Wahrscheinlichkeit ist gleich Null. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sich jemand vom Dach abseilt. In diesem Fall wäre nach dem Motiv zu fragen, das diesen Aufwand rechtfertigte. Aber auch dieser Gesichtspunkt wird nicht erwogen. Wahrscheinlichkeiten gelten nicht, Motive spielen keine Rolle, es zählt einzig und allein die reine Möglichkeit.
Als ich mir dies überlegte, geschah einer dieser faszinierenden Sprünge im Denken, wenn sich Gleiches über getrennte Bereiche hinweg verknüpft, in denen sich gedanklich endlos herumsumpfen liesse. So ging mir auf, dass die Gesellschaft als Ganzes genau in dieser Art verfährt, wenn es um Sicherheit geht. Polizei, Verteidigung, Verkehrswesen, Medizin, Feuerwehr, Geheimdienste. Es zählt die blosse Möglichkeit. Auf Wahrscheinlichkeiten ist keine Rücksicht zu nehmen, es wäre zu kostspielig und zu riskant.
Folglich leidet die ganze Gesellschaft eben diese paranoide Störung. Mir aber sagt der Umkehrschluss eher zu, der von der Gesellschaft auf die angstleidende Person zurückführt. Denn auf gesellschaftlicher Ebene gilt jedes Sicherheitsdispositiv als planmässig erstellte Rationalisierung. Also gilt dies genauso für eben diese Person.
Beide betreiben Relevanzmaximalschadenserwartungsbegrenzung. Auch die Person mit sonderbaren Ängsten rationalisiert ihre Lage. Jedoch wird eingewendet, sie bilde sich die Gründe nur ein.
Wir tun so, als durchschauten wir ein fremdes Leben in allen nötigen Einzelheiten! Im Übrigen wäre jeder Irrsinn, jede Form von Paranoia in irgend einer Weise verhängt mit der Welt und so gesehen als Zugang zu ihr ernst zu nehmen, wie Walter Benjamin es vorschlägt.
Aber bei anderen Menschen sehen wir die Gründe oft nicht, da sie in der Tiefe ungeklärter Vergangenheit ruhen, verborgen in der Schichtung ganzer Generationen.
Oder weil er nicht darüber spricht. Das ist sein gutes Recht.
Jedenfalls lassen sich Gründe annehmen, und das reicht. Das wäre sogar eine Art Anstand neueren Datums.
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