Vor dem israelischen Regierungsgebäude stehen Kinderbetten. In Gaza zittern Kinder im Schlaf. Nie wieder Krieg! Der Ausruf erschallt seit Jahrhunderten ohne Erfolg. Wie sollen wir das Grässliche verstehen, ohne dass wir bestimmte Menschengruppen oder Menschentypen verteufeln? Die Friedwilligen unter uns schütteln einmal mehr den Kopf. Warum eigentlich? Krieg erklärt sich als äusserste Form von Spannungen, die sonst eher weichgespült wirksam sind. Auch im Frieden durchziehen Abneigung, Ressentiment, Antipathie, Argwohn, Vorurteil und Voreingenommenheit kreuz und quer die Gesellschaft auf allen Ebenen. Wen wundert’s, wenn irgendwo ein Funke überspringt, sodass die Lage aus dem Ruder läuft. Es heisst dann: Kühlen Kopf bewahren. Aber offensichtlich misslingt genau dies hartnäckig seit Jahrhunderten. Das Unverständnis dieser Friedfertigen ist gang und gäbe und verlangt Respekt. Aber es rührt von einem Menschenbild her, das sehr wahrscheinlich falsch ist. Wir sind doch längst zur Vernunft gekommen, rufen sie. Wir haben die triebhafte Natur in uns überwunden. So lautet das Selbstverständnis der Moderne. Die Instinkte gelten für abgestorben, soweit es Menschen betrifft. Wir beherrschen unsere Gefühle, wenn es darauf ankommt, wir nutzen den eisklaren Verstand zum Wohle aller. Dieses Menschenbild ist gängig geworden. So gesehen ist es klarerweise unverständlich, dass es nach wie vor Krieg gibt.
Warum aber sollen die Instinkte in uns eingeschlafen sein? Wer entscheidet das? Und wie liesse sich das beweisen?
Für Instinkt und Trieb gilt, dass beides nicht nachweisbar ist. In dieser Welt kommen sie nur als These vor, die eine Leerstelle in der Erklärung von Verhaltensweisen schliesst, die uns verblüffen: Warum flieht eine frischgeschlüpfte Eidechse im richtigen Moment ohne Erfahrung und ohne Vorbild? Diese Eigenschaft kann nur angeboren sein. Das Verhalten beruht auf Instinkt, sagen wir. Das Wort passt wie angegossen. Aber es ist bloss ein Wort. Immerhin klingt es gescheit. Für uns zumindest, denn es handelt sich um die lateinische Bezeichnung für Anreiz. Ein Kind, dem unter Leuten unwohl wird, entfernt sich instinktiv. Erwachsene tun das nicht. Trotz ihres Missbehagens bleiben sie an Ort, setzen vielleicht ein Lächeln auf, oder sie tun beschäftigt. Beim Essen warten wir ab, bis alle Teller gefüllt sind, bevor wir unseren Hunger stillen. Wir schlabbern nicht drauflos, wie Rudeltiere es zweckmässig tun. Zivilisiertes Benehmen lässt uns schlussfolgern, unsere Instinkte seien eingeschlafen. Das täuscht. Das Unwohlsein, das uns plagt, ist ja trotzdem wirksam. Auch wenn wir es vor anderen verbergen.
Vielleicht sind Instinkte in uns so lebendig wie eh und je. Das so genannt zivilisierte Benehmen überlagert sie nur.
Wenn wir dieses Benehmen auf das Gruppenverhalten an sich ausweiten, steckt auch in unserer Zivilisiertheit mehr Natur, als uns lieb wäre. Demnach verhalten wir uns gegen unsere Instinkte, damit wir Anschluss an die Gruppe behalten, die sich eben genau so benimmt.
Wir fürchten soziale Ächtung in jeder Hinsicht.
Und auch diese Sorge entspricht unserer Natur. Also ist sie instinktverdächtig.
Für den Physiker Gerd Ganteför steht fest, dass der Herdentrieb unser gesamtes gesellschaftliches Leben bestimmt. Unterwerfung, Hierarchie, Feindbild, Gruppendynamik, Arbeitsteilung, Manipulation sind unter anderen Merkmale für die Folgen des Herdentriebs. Es mag auf der Hand liegen, dass diese Merkmale auch menschliche Gruppierungen kennzeichnen, wir meinen doch sicher zu sein, dass wir die jeweiligen Vorgänge, wie Hierarchiebildung und so fort, im Griff haben. Die menschliche Besonderheit liegt doch eben darin, dass unser Verstand die Instinkte beschränkt. Gefühle hält er im Zaum. Mitunter schaltet er sie sogar aus, etwa wenn ein Kind austickt und in Tobsucht um sich kreist. Da hilft kein Brutpflegetrieb mehr. Vielleicht könnte aber genau so gut das Gegenteil der Fall sein: Je nach dem facht der Verstand die Gefühle zusätzlich an, pflügt sie um, bringt sie zum Kochen. Denn er befähigt Personen darin, dass sie zusätzliche Möglichkeiten für Gutes wie für Schlechtes erkennen, die ihr ohne Verstand sonst entgingen. Das verstärkt Ängste, verstärkt Lüste. Im Gegensatz zu Tieren kommt bei uns Menschen eine Fähigkeit hinzu, die das Ganze darüber hinaus verbessert oder verschlimmert: Wir erkennen kontextunabhängig. Das heisst, wir können uns Dinge, Sachverhalte, Zusammenhänge vorstellen, indem wir uns daran erinnern oder sie vorausberechnen, ohne dass uns eine konkrete Situation, in die wir geraten, dazu anreizt.
Menschen stehen Todesängste rein durch Überlegung aus, ohne dass im Moment eine wirkliche Gefahr greifbar wäre.
So haben die Juden jederzeit zwei Sinnfiguren vor Augen, wo immer sie sich aufhalten, was immer sie tun: Die Tatsache der Shoa einerseits als reinste Entgrenzung dessen, was für normal und selbstverständlich galt, sowie andererseits der Umstand, dass die Pogrome der letzten Jahrhunderte gegen sie an Brutalität und Entschlossenheit zunehmen. Palästinenser wiederum erinnern sich jederzeit, wo immer sie gerade sind, was immer sie gerade tun, an die rassistische Diskriminierung durch England und Völkerbund, an ihre Vertreibung kurz nach der Staatsgründung Israels, an die Ignoranz der Öffentlichkeit des christlichen Abendlandes gegenüber ihrem Recht auf Selbstbestimmung, das aufgrund seiner Schuld an der Shoa noch heute wie gelähmt scheint. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verweigerte den Palästinensern Gehör. Umso mehr haben sie jederzeit die willkürlichen Gesetze vor Augen, die sie daran hindern, ein gewöhnliches Leben zu führen, wie es den jüdischen Bürgern Israels gestattet ist. Sie sind sich jederzeit der Ungerechtigkeit bewusst, dass man ihnen Besitzrecht an Grund Boden abspricht, wohingegen die Kolonialmacht England das Land vergab, wie es ihr gefiel. Immerhin wird jedes Recht im humanitären Sinn letztlich dadurch begründet, dass man lebendige Gewohnheit anerkennt. Wer Macht als Grund für Recht gelten lässt, wie es für England in dieser Sache zutrifft, befürwortet Kolonialismus und Rassismus.
Beide Seiten bringen somit Argumente vor, die der blosse Verstand als sachlich anerkennen muss. Wie kommt es aber, dass man sich gegenüber der gegnerischen Rechtfertigung verschliesst? Dass nur schon das Anhören als tödlicher Schaden an der eigenen Sache empfunden wird? Die Sachlichkeit der Argumente wird bewusst ignoriert aus vorschneller Sorge zur eigenen Sache. Diese scheinbar blödsinnige Sturheit kann nur daran liegen, dass instinktive Überlebenstriebe in diese angespannte Gemengenlage an kontextfreier Erkenntnis hineinschäumen.
Mir scheint, wir erklären unsere Instinkte für eingeschlafen oder abgestorben, damit wir haftbar bleiben vor dem Gesetz.
Wir meinen immer, die Gegner handelten aus zwangsloser Freiheit, also mit Vorsatz zuungunsten Anderer, und das bedeutet das Böse schlechthin. Diese Einstellung erinnert an vormoderne Verhältnisse, an biblische Vergeltung. Denn das moderne, humanistische Weltbild lässt nur Kausalzusammenhänge gelten.
Vielleicht überschätzen wir die Gegnerschaft in derart rückständiger Weise, damit wir uns besser gegen sie rüsten.
Also geschieht das aus Überlebenstrieb. Aus Instinkt somit.
Jürgen Habermas hat gezeigt, dass Erkenntnis unseren Interessen folgt. Vielleicht sollte man seine Argumentation ausweiten, sodass in den Blick kommt, wie sehr Instinkte unsere Erkenntnis leiten.
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