Wir hungern nach Echtheit. Doch haben wir wirklich den Sinn dafür? Und verkraften wir sie auch? Den meisten genügt ein Waldspaziergang, damit ihr Bedürfnis nach Echtheit gestillt ist. Mit Regenschirm und Mückenmittel. Aber wehe, ein Unrat liegt am Weg. Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem Wildhüter, der mehrmals wöchentlich Kadaver aus den Büschen zieht. Der Grad an Fäulnis bemisst sich am Zeitraum, bis ihm der Fund gemeldet wird. Für die Spaziergänger, die echte Waldluft tanken, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Gerne liess ich mir schildern, wie die Fliegen aufschwärmen. Oder wie er Maden aus dem Heck seines Wagens kehrt. Vom Geruch gar nicht erst zu reden. An diese eigentümliche Süsse habe er sich längst gewöhnt.

Wir mögen Echtheit, wo sie blüht, rieselt, plätschert, wo sie wie sanftes Sonnenlicht auf unsere Haut fällt. Aber das sind allesamt keine notwendigen Eigenschaften von Echtheit. Hässlichkeit ebenso wenig oder Wildheit, Grobheit. Wer jedoch das Widerwärtige meidet, damit er Echtheit erfährt, anerkennt nur die halbe Welt.

Gewünscht wird Tiefgang statt Oberflächlichkeit. Die Generation der Jahrtausendwende hat sich dem Wert der Authentizität verschrieben. Dieses fürchterliche Wort bedeutet, dass Gefühl und Ausdruck übereinstimmen, sei es in Wort oder Geste. Daran hängt sich sogleich der Begriff der Transparenz, der derart überanstrengt wird, dass man Authentizität sicherheitshalber vermeidet. Wer sein Gefühl verbirgt, gilt für unauthentisch. Mag sein.

Aber sein Verbergen ist echt.

Ebenso die Gründe, die diese Person dazu veranlassen. Wir mögen Masken nicht, wenn wir alltäglich miteinander verkehren. Dagegen freuen uns alte Bräuche, wenn etwa ein Lötschentaler mit Maske Wintergeister vertreibt. Es heimelt uns so urtümlich an.

So echt.

Wo Echtheit vor sich hin dämmert, übersehen wir sie leicht. Es braucht schon Rosen, bis wir Blumen bewundern. Die fahle Spierstaude fällt uns eher deshalb unangenehm auf, weil ihre Blüte wie menschlicher Same riecht.

Wenn Echtheit unsere Gegenwart aufmischt, erhöht sich ihr Reiz. Und die Befriedigung vertieft sich. Ein Schüler, mit dem ich öfter im Gespräch war, verriet mir, er bekenne sich zu den Ultras. Auf meine Frage, ob es da wirklich um Schlägereien gehe, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die gehörten zweifelsohne dazu. Mitunter seien sie die Hauptsache. Eigentlich hätte ich diese Leidenschaft verurteilen müssen, aber es gelang mir nicht. Der Schüler, ansonst umgänglich und klug, schien Echtheit zu erfahren, wenn die Fäuste flogen.

Leider werde ich wohl nie einer Geburt beiwohnen. Immerhin stehen mir Todesfälle bevor. Beide Momente dürften an Echtheit kaum zu überbieten sein. Auf der Insel Ischia gab es vor Jahrhunderten ein Felsenkloster, wo verstorbene Nonnen sitzend auf einen Steinsockel gebettet wurden. Die Schwestern hatten andächtig ihrer Verwesung beizuwohnen. Es waren Rinnen in den Stein gehauen, zur Ableitung der Körpersäfte.

Eine Andacht dieser Art bleibt uns erspart. Oder vorenthalten, je nach dem. Was uns bleibt, ist der kleine Tod für dazwischen. Es reicht schon, wenn man diese kraftvolle Echtheit im Vollzug erlebt. Offenbar besteht darüber hinaus der Reiz, fremde Orgasmen zu betrachten. Dieser Ausdruck köstlichster Echtheit scheint besonders beliebt. Das belegen zahllose Selbstzeugnisse im Netz, die Gesichter im Augenblick dieser intimsten Echtheit darbieten. Wer auf die feinen, stillen Züge Acht gibt, statt dass er im Gehampel und Gestöne nach Beweisen sucht, damit er inskünftig vor Täuschung sicher sei, wird einen sanften Moment ausmachen, wo die Mimik derart entspannt ist, dass sie kurzfristig die Züge einer Leiche annimmt. Indes flutet der Höhepunkt das Rückenmark bis zum Kopf. Wie wenn ein Gulli in einem Schub überläuft.

Je mehr wir in die Dinge eingreifen und sie gestalten, indem wir sie einander absondern und anders zusammenfügen, reden wir vermehrt von künstlichen Welten. Für echt halten wir demnach Sachverhalte, wenn sie unserem Einfluss entzogen sind. Wie etwa die Natur. Und da sollte jenen, die nach Echtheit dürsten, eine schlichte Tatsache aufgehen:

Unzweifelhaft echt sind wir selbst.

Von Natur so hervorgebracht, wie sie es offensichtlich für richtig hält. Ohne unser Dazutun. Daher gilt für mich die Unterscheidung in echt und künstlich nur bedingt. Aus meiner Sicht entspringt sie eher einem menschlichen Unbehagen an der Welt. Und an sich selbst.

Was wiederum echt ist. Aus guten Gründen.