Der Besuch eines klassischen Konzerts soll bilden. Dabei ist er von üblichen Stressmomenten durchzogen: Rechtzeitig da sein, rechtzeitig die Karten abholen, sofern bestellt, rechtzeitig zur Toilette gehen, rechtzeitig das Gewirr von Treppen und Zugängen bewältigen, damit man rechtzeitig am Platz erscheint, in der Pause rechtzeitig Wasser besorgen und Wasser lösen, vielleicht ein Perlwein, je nach Bedarf, und dann wieder rechtzeitig zurückfinden. Auch ist Anstand zu wahren, zum Beispiel wenn man sich durch die engen Reihen zwängt, da die Saalordnung nicht auf Anhieb zu durchschauen ist. Dabei gehört es sich, dass man den Sitzenden höflicherweise zugewandt bleibt, ihnen also das höchsteigene Arschfleisch vorenthält. Auch sind zwei Stunden klassischer Musik in einer gewissen Haltung zu verbringen. An entrücktes Tanzen ist nicht zu denken.
Warum tut man sich das an? Das volle Musikerlebnis stellt sich zuverlässiger ab Kopfhörer ein oder zwischen Boxen mit Subwoofer und sonstigem Schnickschnack und Zubehör, wie Gefährte Tim bestätigt, der in Turnhosen mit Beinstreifen in der Philharmonie aufkreuzt. Möglich, dass die Leute meinen, ich peitschte ein missratenes Kind zu mehr Kultiviertheit. Aber mit blossem Kurzarmleibchen und zerzaustem Haar mache auch ich kaum eine bessere Falle.
Also, warum tut man sich das an? Wim Wenders spricht in Sachen Berliner Philharmonie von einem Resonanzkörper der Öffentlichkeit. Sie soll die Zuhörerschaft derart in Bann ziehen, dass man zu jeder Grobheit unfähig wird. Denn es dreht sich um Grobheiten weltpolitischer Grösse: Die zwei Weltkriege und der Todesstreifen ganz in der Nähe am Potsdamer Platz. Klassische Musik versteht sich als sublime Natur inmitten der ungeheuren Sachlichkeit modernen Lebens. Wie ein Diamant strahlt das Orchester aus und verfeinert die Gemüter rund um sich, während der Dirigent genau in der Mitte des Raumes platziert ist.
Gespielt wird Shostakovic, eine durch die Kriege von allein verfeinerte Musik, während nach der Pause Richard Strauss’ Heldenleben serviert wird, das völlig im Widerspruch zum Geist des Hauses pompös und mit Edelfäule durchsetzt als pure Kriegstreiberei auftritt.
Das Gebäude der Berliner Philharmonie erschien früher, da es verwaist in geteilter Landschaft stand, als leichtes, vergoldetes Zelt. Angesichts der gläsernen Module am Potsdamer Platz wirkt es nun geduckt und käferartig oder wie mit Panzerplatten versehen. Das mehrfach ineinander verschachtelte Fünfeck lässt sich an der Architektur von aussen kaum ablesen. Es wäre eine wunderbare Pentagrammatik.
Manche Bürger leisten ihr Abonnement ab. Sie erscheinen stilgerecht gewandet, wohl nach mehrgängigem Menu. So beweist man sich gegenseitig, dass eine ganze Gesellschaft an der Verfeinerung der Sitten mitwirkt, damit es zu keinen Grobheiten der genannten Art mehr kommt. Daher ist es ohne Belang, ob diese Leute musikalisch sind oder nicht.
Die diamantene Resonanz soll ihre Gedanken ordnen zum Zwecke ewigen Friedens.
Philharmonie jedoch, so denke ich mir, als wir Tims Aludose zu entsorgen suchen, ohne dass dabei allenfalls seine jugendliche Verruchtheit bewiesen wäre, muss mehr bedeuten, als nur ein Wohlklang. Denn wie ordnest du eben die Grobheiten ein, die Verrohungen durch die Menschen, die doch immer wiederkehren? Dieses Weltbild wäre umfassend und daher wirklich philharmonisch.
Diese Art von Philharmonie interessiert mich wirklich: Die Freundschaft zu einer Vielfalt in Einem, die durchaus problematisch ist. Die Zustimmung zu Dingen, auch wenn sie schlecht zueinander passen. Das wäre die eigentliche Herausforderung.
Die Konzertbesucher vergewissern sich wechselseitig in beinah messbarer Klarheit, dass die Gesellschaft, der sie angehören, nicht in Barbarei versinkt. Auch diese Kontrolle lässt sich als Resonanz verstehen. Sie entginge allen, wenn man sich zu Hause zwischen Lautsprechern kultivierte. Man wäre also unsicher, ob Kultivierung nach wie vor gewährleistet wird. Tims Aufzug dürfte daher für Entrüstung sorgen, wie manche Blicke offenbar verraten. Immerhin, so fällt mir ein, trugen die höheren Offiziere der Schweizer Armee vor Jahrzehnten genau solche Beinstreifen. Zwar in Schwarz auf Grau, statt in Weiss auf Schwarz.
Leute, für die Wehrdienst eine Bürgerpflicht war. Genauso wie Kultivierung.
Durch klassische Musik.
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